Um Spanisch zu lernen, schaue ich öfter mal Videos bei YouTube. In der Regel sind das dann Kochvideos, erstens weil mich Kochen und regionale Küche interessieren und zweitens weil ich es einfacher finde, Worte oder gar Sätze herauszuhören und zu verstehen, wenn der gesprochene Text eine Handlung hat, die mir in gewisser Weise vertraut ist. Letzte Woche bin ich dabei auf den Kanal eines mexikanischen Bäckers und Kochs gestoßen, der es sich zum Ziel gemacht hat, regionale Kochtraditionen zu bewahren. Zu seinem Kanal geht es hier entlang (ausschließlich auf Spanisch). Mir wurde dann von YouTube ein Video zur Herstellung von pan de muertos (wört. Totenbrot) empfohlen, vermutlich weil die dazugehörigen Festivitäten – die días de los muertos – Anfang November stattfinden. Damit fing alles an 🙂
Ich erinnerte mich daran, daß ich Mitte der 90er mal eine Ausstellung zu diesem mexikanischen Fest im Heimatmuseum in Lübeck gesehen hatte. Damals gab es für alle Besucher das Rezept des traditionellen pan de muertos als Ausdruck zum mitnehmen, und ich erinnerte mich an bestimmte Bilder aus der Ausstellung wie beispielsweise die bunten Scherenschnittbilder und die Zuckerschädel. Dann kam eins zum anderen und nun befasse ich mich ziemlich intensiv mit der spirituellen Welt der Nahua, der größten indigenen Ethnie im heutigen Mexiko, insbesondere in Hinblick auf Sterben, Tod und Jenseitsvorstellungen.
Die días de los muertos werden am 1. und 2. November gefeiert, wobei am 1. November die verstorbenen Kinder im Mittelpunkt stehen und am 2. die verstorbenen Erwachsenen. Augenfällig ist natürlich, daß diese Daten mit den christlichen Festen Allerheiligen und Allerseelen und auch mit Halloween, das in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November gefeiert wird, zusammenliegen.
Die Ursprünge von Halloween liegen im heutigen UK, wo die Kelten es Samhain nannten. Im Zuge der Christianisierung mußte die katholische Kirche feststellen, daß die Menschen an ihren Sitten und Gebräuchen festhielten, so daß Samhain kurzerhand in das christliche Fest All Hallows‘ Eve uminterpretiert wurde, aus dem im Laufe der Zeit eben Halloween wurde. Die Idee von Halloween verbreitete sich im Mittelalter in ganz Europa, und auch die Conquistadores waren mit Halloween bzw. dessen Grundgedanken vertraut, als sie den lateinamerikanischen Kontinent einnahmen und dessen Bewohner zwangsmissionierten. Daß der Glaube der Nahua und das Christentum gewisse Ähnlichkeiten wie etwa das Symbol des Kreuzes und den Glauben an das ewige Leben hatten, erleichterte die Christianisierung. Auf diese Weise mischten sich indigener Glaube und Christentum.
Nun liegen allerdings Halloween und den días de los muertos gänzlich andere Vorstellungen von der Qualität des Besuchs der Toten bei den Lebenden zugrunde. Während an Halloween die Geister der Toten zurückkommen, um die Lebenden zu erschrecken, sie zu plagen und ihnen Angst einzujagen, betrachten die Mexikaner die días de los muertos als freudiges Ereignis, bei dem sie Kontakt zu geliebten Verstorbenen bekommen und wo diese unter ihnen weilen. Anders als Halloween ist das mexikanische Totenfest also von einer positiven Sicht auf die jenseitigen Dinge gekennzeichnet: es gibt keinen Grund dafür, Angst vorm Tod oder den Toten zu haben.
Die Nahua betrachten das Leben als Illusion und glauben, daß wir nur im Tode wahrhaft wach seien und sehen können, was auch ihr positives Bild von Tod und Sterben erklärt. Sie glauben an eine Dreiteilung der Welt in Ober-, Mittel- und Unterwelt, wobei die Unterwelt nicht mit der christlichen Hölle und die Oberwelt nicht mit dem christlichen Himmel verwechselt werden darf. Die Menschen leben in der Mittelwelt. Wer nun an den sog. Weltenbaum denkt, den es u.a. auch in der spirituellen Vorstellung der Germanen und einiger sibirischer Stämme gab bzw. gibt, hat ganz recht damit, wenn er dort eine Verwandtschaft vermutet, denn über die einstmals existierende Landbrücke der Beringstraße wurde dieses dreiteilige Weltbild aus Sibirieren bis nach Lateinamerika gebracht.
Die Nahua glauben nun, daß, sobald Menschen sterben, sie entweder direkt in die Oberwelt, welche aus 13 Sphären besteht und wo sie mit den Göttern vereint weiterleben, oder zunächst in die Unterwelt gelangen. In dieser müssen sie neun Prüfungen bestehen bzw. neun Pforten durchschreiten, bevor sie in das eigentliche Totenreich (Mictlan) gelangen. Dort sterben sie noch mehrmals (= durchlaufen mehrere Metamorphosen), bevor sie schließlich in die Oberwelt gelangen.
Anders als in der christlichen Vorstellung, wo die Lebensführung darauf Einfluß hat, ob man in den Himmel oder in die Hölle kommt, legt im Glauben der Nahua allein die Todesart fest, wohin man gelangt. So steigen beispielsweise Selbstmörder, Geopferte oder Frauen, die bei der Geburt gestorben sind, direkt in die Oberwelt auf.
Obwohl die días de los muertos eigentlich ein Familienfest sind, gibt es auch zahlreiche öffentliche Veranstaltungen, zu denen Maskierte und Verkleidete als Skelette tanzen und musizieren. Die Toten bewegen sich an diesen Tagen unter den Lebenden und man feiert gemeinsam die Reunion mit den geliebten Angehörigen.
Zu den días gehört das Aufstellen von privaten und öffentlichen Altären, den sog. ofrendas, dazu. Obwohl diese stark katholisch anmuten, geht ihr Ursprung doch auf den indigenen Nahua-Glauben zurück. Im Grunde hat jede Familie eine eigene ofrenda für ihre Verstorbenen, während die öffentlichen Altäre für all diejenigen Toten errichtet werden, die keine Hinterbliebenen mehr haben. Traditionell werden die ofrendas mit gelben Tagetes und anderen symbolhaften Blumen, Scherenschnitten und Papiergirlanden, Kerzen, Zuckerschädeln, dem pan de muertos, kleinen Skeletten und den Dingen geschmückt, die den Toten gefallen hätten. Außerdem wird auf diesen Altären gern Copal verbrannt, weil man glaubt, daß dieser Duft den Toten schmeichelt.
Das Symbol der Schädel (calavera) und Skelette wurde übrigens erst Anfang des 20. Jahrhunderts so populär, weil ein bekannter Künstler, José Guadalupe Posada (1852-1913), die Darstellung von (verkleideten) Skeletten in ironischer Weise nutzte, um Menschen, die dem einfachen Volk, der Mittelschicht und der Regierung als gleichrangig zu zeigen – der Tod als Gleichmacher, sozusagen. Er hat auch die bekannte und beliebte Skelettdame La Catrina geschaffen, als sie sich heute viele Menschen verkleiden. Guadalupe Posada ist wohl zudem die Popularität der Zuckerschädel zu verdanken. Diese werden aus weißem Zucker und Eiweiß gefertigt und aufwendig mit buntem Zuckerguß, Pailetten und Goldfolie dekoriert. Sowohl als Geschenk an die Toten als auch an die Lebenden gelten sie als Liebesgaben, die dem Beschenkten der unverbrüchlichen Zuneigung des Schenkenden versichern.
Das pan de muertos ist ein Symbolgebäck. Auf seiner Oberseite finden sich zwei gekreuzte „Knochen“ sowie ein „Schädel“ in der Mitte – alles aus Teig geformt. Traditionellerweise enthält das Totenbrot Orangenabrieb und Orangenwasser, denn die días de los muertos fallen in die Erntezeit der Orangen, und natürlich findet sich die Farbe Orange der von den Toten so geliebten Tagestesblüte auch in der Fruchtschale wieder.
Wer nun Lust hat, selbst einen Zuckerschädel zu machen, dem empfehle ich dieses Video hier (Englisch). Vielleicht kann man die Schädel, wenn man entsprechend begabt ist, auch frei formen, ansonsten hilft Google weiter.
Das Video über die Herstellung von pan de muertos, das mich überhaupt erst dazu gebracht hat, mich näher mit dem Thema zu befassen, gibt es hier (Spanisch). Ich habe außerdem noch pan de muertos Cupcakes gefunden, hier (Spanisch mit englischen Untertiteln).
Ein weiteres traditionelles Gericht zu den días ist Mole – eine Sauce, die mit geräucherten Ancho-Chilis zubereitet wird und die vom Aroma her an Schokolade erinnert. Diese Mole wird mit Fleisch serviert, kann aber auch zu Gemüse gegessen werden. Ein Rezept dafür gibt es hier (Spanisch mit nicht total genauen englischen Untertiteln).
Alle in allem sind die días de los muertos ein freudiges Ereignis, das uns helfen soll, mit den Toten zu leben und dem Tod den Schrecken zu nehmen.
[Quelle für die allgemeinen Infos zu den días hier]